Risikoanalyse: ICS2 zeigt sein volles Potenzial
Die erste Etappe des neuen europäischen Einfuhrkontrollsystems (Import Control System 2, ICS2) startete in der Schweiz im März 2021 in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Post. Nach zögerlichen Anfängen sind die Ergebnisse nun vielversprechend. Eine Reportage in Zürich zeigt, wo das neue Risikoanalyse-Tool für zwei Teams des BAZG schon zur alltäglichen Arbeit gehört.
29.03.2022, Yanis Gogniat
Jedes Jahr werden Millionen von Waren aus Drittländern in den gemeinsamen Zollsicherheitsraum importiert, den die EU, die Schweiz und Norwegen bilden. Für diese Berge von Sendungen braucht es Risikoanalysen und Sicherheitskontrollen, was eine grosse Herausforderung darstellt. Seit dem Start der ersten Etappe (Release 1) von ICS2 am 15. März 2021 im Postverkehr stehen den Zollbehörden zu ihrer Unterstützung zusätzliche Tools und Daten zur Verfügung. Potenzielle Gefahren bei der Einfuhr dieser Waren lassen sich nun frühzeitig erkennen. Wie läuft das in der Praxis ab? Wir haben den beiden Teams, die in Zürich bereits mit ICS2 arbeiten, einen Besuch abgestattet, um mit ihnen nach dem ersten Betriebsjahr Bilanz zu ziehen.
Am Anfang steht die Datenanalyse
Die erste Etappe von ICS2 betrifft in der Schweiz Postsendungen, welche über die Flughäfen Zürich und Genf eingeflogen und anschliessend in den Verteilzentren der Schweizerischen Post verarbeitet werden. Diese Waren werden vor ihrer Zustellung von einem Spezialteam des BAZG unter die Lupe genommen. Das Team besteht aus einem Dutzend Personen und hat die Aufgabe, die Daten der beiden Arten von Voranmeldung (PLACI und ENS; siehe Kästchen am Schluss des Artikels) zu analysieren. «Täglich gehen zwischen 50’000 und 100’000 Voranmeldungen im System ein, von denen wir natürlich nicht jede einzeln analysieren können. Wir definieren deshalb Selektionsregeln, die uns helfen, die potenziell verdächtigen Sendungen herauszusuchen», erklärt Pascal Hügli, Fachspezialist im Analyseteam. Die Selektionsregeln beruhen zum einen auf früheren positiven Ergebnissen und zum andern auf Merkmalen, die von den Fachspezialisten des Analyseteams definiert wurden.
Dazu ein Beispiel: Den Analystinnen und Analysten fällt bei ihrer Überwachung auf, dass ein hoher Anteil an fehlerhaften oder verdächtigen Vorausanmeldungen ähnliche Merkmale aufweisen. Nachdem sie diese Unregelmässigkeit erkannt haben, definieren sie eine Selektionsregel, damit alle Waren mit diesen Merkmalen eine Warnung (in ihrem Jargon «einen Hit») auslösen. Das Analyseteam wird also jedes Mal, wenn eine diesem Filter entsprechende Vorausanmeldung im System eingeht, benachrichtigt. Jede dieser Vorausanmeldungen wird eingehend analysiert und wenn die Fachspezialisten eine potenzielle Gefahr entdecken, eine Prüfung der Ware empfohlen. Liegt eine Gefahr für die Luftsicherheit vor, kann das Paket vor dem Verladen im Versendungsland kontrolliert werden. In den anderen Fällen wird die Kontrolle bei der Ankunft der Ware in die Schweiz durchgeführt. «Wir überprüfen die Regeln ständig und passen sie kontinuierlich an im Wissen darum, dass die Gegenseite ihre Vorgehensweise ebenfalls schnell anpasst», hält Pascal Hügli fest.
Ergebnisse immer vielversprechender
«ICS2 war für uns etwas vollkommen Neues. Es brauchte einige Monate, bevor wir in der Lage waren, das System voll zu nutzen», präzisiert Carmelo Lombardo, der Leiter des Analyseteams. «Bei der Datenanalyse mussten wir bei Null anfangen, da wir zunächst ein erstes Verzeichnis von Regeln entwickeln mussten. Heute verfügen wir über etwa 1'000 aktive Filterregeln, die eine aussagekräftige Analyse ermöglichen». Dieser schrittweise Anstieg schlägt sich in den Zahlen nieder: In den ersten Betriebsmonaten wurden ca. 5 Prozent der Widerhandlungen aufgrund einer Kontrollempfehlung des Analyseteams festgestellt. Heute liegt dieser Anteil etwa bei 20 Prozent. «Die Entwicklung der Statistiken zeigt uns, dass wir auf gutem Weg sind», meint Carmelo Lombardo abschliessend.
Die Teams des BAZG, die vor Ort in Mülligen arbeiten, machen ähnliche Erfahrungen, wie uns der Leiter des Einsatzteams im Zürcher Sortierzentrum, Heiner Hofmann, erklärt: «Sowohl für uns wie für die Leute von der Post waren die Prozesse komplett neu. Zu Beginn waren unsere Aufgaben noch etwas vage. Mit dem Analyseteam hatten sich noch keine Synergien ergeben. Die ersten Kontrollen erwiesen sich deshalb als wenig wirksam». Später intensivierte sich der Austausch zwischen den verschiedenen Akteuren. Angehörige des Analyseteams begleiteten ihre Kolleginnen und Kollegen vor Ort ins Briefzentrum von Mülligen. Dadurch konnte die Anzahl der Kontrollempfehlungen an die Kapazitäten des Einsatzteams angepasst werden. «Ausserdem verfeinerten wir mit der Post die gemeinsamen Prozesse. Nun ist klar, welche Aufgaben den Mitarbeitenden des BAZG oder denjenigen der Post obliegen. Das hat zu einem Effizienz- und Qualitätsgewinn geführt», fasst Heiner Hofmann zusammen.
Von der Analyse zur Kontrolle – und umgekehrt
Der Informationsaustausch ist keine Einbahnstrasse. Beim Vorliegen positiver Ergebnisse, seien dies Waffen, verbotene Substanzen oder Drogen, die in den Sendungen entdeckt werden, werden im mit ICS2 verbundenen Informationssystem entsprechende Kontrollberichte erfasst. Dadurch kann das Analyseteam seine Prüfempfehlungen kontinuierlich nachverfolgen und verfeinern. Wenn die herausgefilterten Produkte auf eine Widerhandlung schliessen lassen, werden die beschlagnahmten Waren sowie ein Bericht an die zuständige Polizei- und Justizbehörden weitergeleitet. «Wir erwarten noch einige Verbesserungen in Bezug auf die Funktionalität und Benutzerfreundlichkeit des Systems. Zurzeit verwenden wir noch zwei parallele IT-Systeme. Ab dem nächsten Jahr soll alles zusammengeführt und vereinfacht werden. Das ist also erst der Anfang», freut sich Heiner Hofmann.